In manchen Situationen entsteht ein Dringlichkeitsgefühl, das bei genauerem Hinsehen eine wichtige und nicht so leicht zu hörende Information enthält. An der Oberfläche höre ich zum Beispiel: „Schnell, du musst dich jetzt entscheiden, sonst …“ oder „Dazu musst du jetzt unbedingt etwas sagen, sonst …“ oder auch „Ich braucht jetzt unbedingt einen Kaffee, sonst …“ In der Tiefe wird allerdings etwas ganz Anderes wichtig … nur was eigentlich? Es bleibt die Frage, wie ich über die Dringlichkeit hinausschauen und ohne Druck agieren kann.
Ein ganz banales Beispiel: Hier in meinem Stadtteil in Roskilde wird eine neue Kirche direkt neben der Schule gebaut. Dies wurde in einer Stadtteilgruppe auf Facebook bekanntgegeben und sofort fand eine heiße Diskussion statt, die schließlich in gegenseitigen Bewertungen, Beschämung, Abwertung etc mündete. Keiner hörte dem anderen zu, es gab wenig Bereitschaft, gegensätzliche Sichtweisen stehen zu lassen.
In mir reagierte etwas auf die sich entfaltende Diskussion. Es entstand ein starkes Gefühl von Dringlichkeit: Ich muss jetzt hier etwas beitragen, meine Meinung kundtun, mich auf diese Seite schlagen, für diese Seite kämpfen, usw. Ich konnte betrachte, wie eine „klare Meinung“ in mir aufstieg, von der nun verlangt wurde, sie kundzutun.
Eine ähnliche Situation konnte ich am selben Tag in einer Focusing-Sitzung begleiten: Ein großes Team innerhalb einer Versicherungsgesellschaft wurde in zwei kleinere Teams eingeteilt. Ein bisheriger Kollege wurde zur Leitung der neu entstandenen Gruppe ernannt, während die zweite Gruppe weiterhin unter der ursprünglichen Leitung blieb.
Nun war es so, dass etwas auftauchte, das unbedingt jetzt sofort eine Entscheidung forderte, in welcher Gruppe es in Zukunft besser wäre. Es entstand derartig viel Druck, Angst und Dringlichkeit, dass es kaum möglich war, sich dieser Situation im Innern zu stellen und klar darüber nachzudenken bzw. abzuwägen.
Beide Beispiele lösten sich auf die gleiche Art und Weise: Indem ich bzw. die Person im Focusing auf das Gefühl der Dringlichkeit achteten und diesem wirklich Zeit und Raum gaben. Paradox, nicht wahr? Würde Sie nicht denken, dass dadurch nur alles noch viel „schlimmer“ werden würde?
Das Gegenteil ist der Fall. Wenn ich auf die richtige Art und Weise (dies ist Inhalt des Focusing Einsteigerpakets) meinen Fokus auf die Dringlichkeit lege, dann befreie ich mich dadurch auf dem schnellstmöglichen Weg aus dessen Logik, dass nämlich alles ganz schnell und alles vollkommen richtig entschieden werden muss.
Der Blick richtet sich stattdessen darauf, was dieser Aspekt von mir befürchtet bzw. wovor er mich schützen möchte. Anstatt auf Druck und Dringlichkeit zu reagieren, komme ich so in eine klärende Auseinandersetzung. Mir wird klar, welche Anteile und Reaktionen in mir eine Rolle spielen – und wie diese jeweils vorschlagen zu handeln. Nur aus dieser neuen, weiteren Perspektive kann ich mir Zeit lassen, innehalten, langsam vorangehen, sorgfältig sichten und dann in die Handlung kommen, die stimmig und konstruktiv für mich ist.
Im Falle von Facebook war dies: Das Handy ausschalten. Im Falle der Teamentscheidung war dies die Erkenntnis, dass viel mehr Zeit vorliegt als gedacht und es darum geht, erst einmal in Ruhe zu reflektieren und abzuwägen, wo welche Chancen liegen. Im weiteren Verlauf der Prozesse klärten sich dann inhaltlich Schritt für Schritt die eigene Sichtweise, die eigenen Werte und die nächsten Schritte, die es zu tun oder zu lassen galt.
Achten Sie also gerne auf unangenehme Dringlichkeitsgefühle in Ihrer nächsten Focusing-Sitzung, alles was mit „müssen“, „sollen“ und „brauchen“ zu tun hat. Vielleicht entdecken Sie auch ein paar neue Facetten, die hilfreich sind, um sich aus der vorgegeben Logik zu befreien und eigene Wege zu gehen.