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Tipps & Tricks Nr. 107 – Das Mädchen, das niemals traurig sein durfte

Es war einmal ein Mädchen, das durfte niemals traurig sein. Es fühlte sich zwar oftmals allein und traurig, aber ihr Vater und ihre Mutter wollten, dass es allen in der Familie immer nur gut ginge; und »gut gehen« bedeutete in ihrer Welt niemals traurig zu sein.


So lernte das Mädchen von klein auf ihre Traurigkeit ganz weit weg zu drängen und zu verbergen. Sie drängte ihre Traurigkeit so weit weg, dass diese nur noch in einem winzig kleinen, dunklen Eckchen leben durfte.


Da saß die Traurigkeit nun in ihrem Eckchen, jahrein und jahraus, und sie bekam niemals Raum. Niemals durfte sie an die frische Luft; und niemand konnte ihre Schönheit sehen oder hören, was sie zu sagen hatte. Niemand schien sie mehr zu mögen. Sie wurde immer trauriger und ihr Schmerz immer intensiver.


Die Traurigkeit verstand sich selbst nicht mehr. Sie wollte doch so gerne, dass es dem Mädchen gut ginge und sie hatte da einige gute Ideen – aber sie hatte gelernt, dass das Mädchen wohl nur dann froh sein könne, wenn es niemals traurig ist. Also blieb die Traurigkeit still in ihrem Eckchen sitzen, damit es dem Mädchen ja nicht schlecht ginge.


Die Eltern des Mädchens waren sehr zufrieden und glücklich, denn schließlich war ihre Tochter ja niemals traurig. „Haben wir nicht ein wundervolles Leben?“ sagten sie zueinander und „Wie schön, dass unser Kind niemals traurig ist.“ - so konnte jeder an ihrem Kind sehen, wie gut alles war in ihrem Leben.


Als das Mädchen älter wurde, fing es an, Angst zu haben. Sie war verwirrt, denn sie fühlte die Angst, verstand aber nicht, wovor sie eigentlich Angst hatte. Sie versteckte die Angst auch vor ihren Eltern, denn sie hatte ja gelernt, dass es wichtig ist, dass immer alles gut ist. Aber in ihr steigerte sich die Angst nun oft bis hin zur Panik; und sie wurde auch wütend auf sich selbst; und in ihrer Verzweiflung fing sie sogar manchmal heimlich an, sich selbst weh zu tun und zu verletzen.


Eines Tages, in all ihrem Leid und Schmerz, lief sie hinaus aus dem Haus der Eltern und in den Wald hinein, der ganz in der Nähe lag. Sie fühlte einen unbändigen Schmerz in sich, der sie trieb. Manchmal hatte sie so viel Angst, dass sie nicht mehr richtig atmen konnte. Es schien ihr, als ob nichts mehr gut sei in ihrem Leben. Sie fing an zu laufen, um davon wegzukommen. Sie lief und lief bis sie so erschöpft war, dass sie sich auf den Boden des Waldes warf und sofort einschlief.


Als das Mädchen aufwachte, lag sie am Ufer eines kleinen Sees. Der See war so ruhig und sein Wasser so dunkel, dass sich alles darin spiegelte. Sie saß ganz ruhig da und wie verzaubert und schaute in den See. Nach einer Weile blickte sie in ihre eigenen Augen und ihr eigenes Gesicht im Spiegel des Sees.


Es dauerte nicht lange, da sah sie in ihren Augen und in ihrem Gesicht eine Traurigkeit, die sie tief berührte. Sie empfand Mitleid mit der Traurigkeit. Ohne zu zögern legte sie ihre Hand auf ihr Herz und fing an, die Traurigkeit in sich genau zu spüren. Sie berührte auch ihr Gesicht und schloss ab und zu die Augen, um sie mit den Händen berühren zu können.


Jetzt erinnerte sie sich daran, wie die Traurigkeit nur noch in einem winzig kleinen Eckchen Platz gehabt hatte; und ohne darüber nachzudenken lud das Mädchen die Traurigkeit ein, so viel Platz einzunehmen, wie sie mochte. Denn ohne es zu wissen fühlte das Mädchen sich auf einmal stark genug dafür, die Traurigkeit zu spüren und anzunehmen.


So saß sie dort, umgeben von den beruhigenden Geräuschen des Waldes. Sie atmete die kühle Waldluft langsam und regelmäßig ein und aus und betrachtete das Spiegelbild ihrer selbst; und mit Verwunderung stellte sie fest, dass die Traurigkeit ganz schüchtern war und sich zuerst kaum traute sich mehr zu zeigen. Zuerst tauchte sie in ihrem Herzen auf, dann in ihrer Kehle und schließlich, wieder, in ihren Augen.


Das Mädchen weinte mit der Traurigkeit zusammen, und die Traurigkeit war froh. Endlich durfte sie ihre Schönheit zeigen und ihre Kraft. Endlich konnte auch sie teilhaben an ihrem Leben, endlich würde auch sie beitragen dürfen. Alles atmete auf.


In diesem Moment beschloss das Mädchen, immer wieder an diesen Ort zurückzukehren. Je fester dieser Entschluss wurde, desto erleichterter fühlte sie sich. Und je erleichterter sie sich fühlte, desto mehr freute sie sich am Leben.


Diese Freude war ganz anders. Ich freu mich ja einfach so, dachte das Mädchen und schaute sich um im Wald: Weder der See noch die Bäume oder die Tiere wollen, dass ich anders wäre, als ich bin. Es war, als käme sie in eine Welt, die ganz anders funktionierte, als sie es kannte. Und so war es tatsächlich.


Das Mädchen kehrte zurück in ihre alte Welt, aber sie vergaß nie zurückzukehren zu ihrem See. Manchmal konnte sie sich den See im Wald sogar einfach vergegenwärtigen – und es war, als ob sie zur gleichen Zeit an zwei Orten sein konnte. So wurde sie über die Jahre stark und frei und konnte ein eigenes, erfülltes und lebendiges Leben leben.

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