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Nr. 186 – Innere Kritiker im Gewand aktueller gesellschaftlicher Themen

Über die letzten Jahre ist mir in den Focusing-Sitzungen, die ich begleite, des Öfteren ein spezieller Typus des inneren Kritikers begegnet. Ich erinnere mich an das erste Mal, als dieser Kritiker auftauchte; damals arbeitete ich mit jemandem, der sich als Umweltaktivist verstand. Im weiteren Verlauf lernte ich immer mehr Menschen kennen, denen es – als „Normalbürger“ – ähnlich erging: Zum einen erlebten alle einen großen Schmerz über den Zustand der Natur und wie wir mit ihr umgehen. Zum anderen war etwas anderes anwesend: Eine stark bewertende, ja verurteilende und vernichtende innere Stimme, wenn das eigene Verhalten von der gesetzten Norm, sich „richtig“ zu verhalten, abwich.


Gibt es eine Alternative zu diesem Leiden? Auf den ersten Blick schien diese Stimme ja „Recht“ zu haben. Schließlich geht es um die Umwelt, wer könnte etwas dagegen einwenden!


Brauche ich Leid ?

Die Idee aber, dass Sie Leid und vernichtende Kritik brauchen, um sich „richtig“ zu verhalten oder um etwas „zu schaffen“, wird auch im Gewand wichtiger gesellschaftlicher Themen schnell auffallen.


Oft taten sich in den Focusing-Sitzungen andere Bereiche im Leben auf, in denen mit ähnlicher Vehemenz verurteilt und bewertet wurde; wie ich als Mensch generell zu sein habe, welchen moralischen Regeln ich folgen sollte, dass ich „besser“ sein und mich entwickeln muss, wie ich in den Augen anderer erscheine: Versager! Ungenügend! Schäm dich!


Unmöglich zu erfüllend: immer, niemals ...

Es schien so, als ob der innere Kritiker einfach nur im Gewand aktueller gesellschaftlicher Themen neu auftritt; und letztlich überall dort, wo es möglich ist, unmöglich zu erfüllende Regeln aufzustellen.

  • Ich muss immer …

  • Ich darf niemals …

  • Wenn ich doch …, dann bin ich für immer [vernichtendes Urteil].

Was tun?

Was tun? Im Focusing ist es wichtig, zu differenzieren. Dazu gehört zweierlei:

  1. Die Ideen, die ein innerer Kritiker entwickelt, können sinnvoll sein. Sie gehören gehört und geprüft. Diese Anerkennung ist wichtig und innere Kritiker haben schon oft interessante Sichtweisen beigetragen – oder einen Grund, darüber weiter nachzudenken.

  2. Der Ort in uns, der schmerzt, der verletzt ist oder verurteilt, dieser Ort braucht Zuneigung und echtes Zuhören. Wenn Sie nicht zuhören, so fungiert dieser Schmerz als Antreiber und Richter. Auf diese Art und Weise kann ein ganzes Leben, eine ganze Karriere gesteuert werden.

"Richtig" und "gut" sein

Differenzieren Sie hingegen nicht, und verstricken Sie sich ausschließlich in den Vorgaben des inneren Kritikers, dann fallen Sie auf ein Ablenkungsmanöver hinein. Sie müssen dann immer besser, moralischer, entwickelter erscheinen und handeln, um „richtig“ zu sein und keinen Schmerz, Verlust, Bestrafung, Scham oder Ärger zu erleben.


Solch eine Strategie führt m.E. in große Schwierigkeiten hinein, denn Sie müssen einen wichtigen Teil Ihrer Lebendigkeit beschneiden, um „gut“ oder „richtig“ zu sein. In meinen Augen ist dies eine wenig nachhaltige Idee, mit den eigenen Ressourcen umzugehen.


Ein Mensch mit allen Brüchen sein

Können Sie hingegen differenzieren, so können Sie die ursprünglichen Verletzungen und den Schmerz aushalten und dort einen inneren Raum anbieten. Dies an sich ist ein wunderbarer Prozess, um zu sich zu kommen und nicht mehr getrieben zu werden.


Einen Weg nach Vorne finden

Anstatt Selbstverurteilung und -bestrafung zu zelebrieren und dadurch (nach unerkannten Regeln) zu handeln, dürfen Sie Mensch sein, so wie Sie gerade sind, und von dieser Akzeptanz aus langsam und offen beispielsweise wahrnehmen:

  • Wo stehe ich mit diesem Thema? Was nehme ich als inzwischen unpassend wahr?

  • Was ist mir wichtig daran?

  • Wo hingegen entsteht Druck und Antreiben?

  • Was bedeutet dies für mein Leben?

  • Was möchte sich (ohne Druck und Verurteilung) verändern? Was ist konkret möglich?

  • Gibt es Ziele, die erreicht werden möchten und die ich gleichzeitig nicht als harte Regeln empfinde?

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