Langsamkeit und Stille hat oft ein schlechtes Image. LDL: Lahm, Dröge, Langweilig. Andere wiederum sehnen sich geradezu danach, eine Situation langsam schweigend-spürend anzugehen, zu durchdenken und sich klar darüber zu werden, was all dies für das eigene Leben bedeutet. Oftmals bleibt aber eine gewisse Unsicherheit, wieso Langsamkeit sich eigentlich so stimmig anfühlt – bin ich eine lahme Ente? – denn die Kritik „LDL“ wirkt sich gerade am Anfang leicht aus; sie wird sichtbar durch Ungeduld, Druck und dem Wunsch, dann doch lieber den Abwasch zu machen. Wann und warum also ist Langsamkeit so wertvoll?
Langsamkeit verändert das Bewusstsein. Wertvoll wird diese Veränderung dann, wenn ich sie bewusst anwende; zum Beispiel, wenn ich entscheide, eine bestimmte konflikthafte Situation in meinem Leben näher zu betrachten, um neue Perspektiven und Möglichkeiten zu erhalten.
Eine bewusste Entscheidung
Um dies bewusst entscheiden zu können, brauche ich ein Gefühl für dafür, wann ich schneller oder langsamer werde; und wodurch mir dies gelingt.
Setze ich Langsamkeit als wertvolle Praxis ein, so geht mir dann darum, langsamer als gewohnt (oder: jetzt gerade) zu werden. Mir ist also klar, dass Langsamkeit kein Selbstzweck ist, sondern ein Verhalten, mithilfe dessen ich in den Genuss verschiedenster Vorteile komme.
Vier Vorteile, langsam voranzugehen
Was sind nur diese Vorteile? Wozu kann ich ein langsames vorgehen nutzen? Hier sind vier Möglichkeiten (es gibt deutlich mehr), die Sie vielleicht interessant finden:
Spüren. Schnelligkeit geht damit einher, eher wenig zu spüren. Vielmehr geht es in erster Linie um die Ausführung einer bekannten Bewegung; sei es körperlich, gefühlsmäßig oder gedanklich: Ich folge einer klaren Spur, die mir eine gewisse Form der Sicherheit gibt. Verlasse ich diese Spur, so bin ich darauf angewiesen, mehr zu spüren. Dieses Spüren hilft mir, zu mir zu kommen oder, wie ich so gerne zu meinen Klientinnen sage: „Aus all dem aufzutauchen.“ Im Spüren finde ich zu mir zurück und zu dem, was mich ausmacht, was mir wichtig ist und mich weiterträgt. Dieses Spüren, Tasten, Kennenlernen ist die Grundlage für alles weitere, was mir im langsamen Vorangehen ermöglicht wird.
Differenzieren. Bin ich langsamer als gewohnt, so tun sich neue Welten auf. Mehr und mehr Details treten zutage, die mir vorher nicht bewusst waren. Eine überraschende Fülle von lebendigen Eindrücken rund um die für mich wichtige Fragestellung stellt sich ein und es entstehen spontane, neue Zusammenhänge und spürbare Fortentwicklung. Ich kann damit Gedanken genauso untersuchen wie Gefühle, Körpersensationen oder Erinnerungen – und je differenzierter mir dies gelingt, desto punktgenauer wird auch die Lösung oder der Schritt, der als nächstes möglich wird.
Lernen. Langsamkeit führt dazu, dass ich das, was ich heute langsam übe, vielleicht morgen schon etwas schneller tun kann: Eine hohe Aufmerksamkeitsqualität mit starken Emotionen, der Umgang mit dem inneren Kritiker währen dieser aktiv ist, das Timing meiner Ja/Nein-Antwort bei einer Anfrage des Chefs, sich in die Lage jemand anderes hineinzuversetzen während eines Streitgesprächs, meinen Schmerz um die Welt anerkennen ohne mich lähmen zu lassen … Es gibt so viele neue Verhaltensweisen im Kleinen und Großen, und je langsamer ich sie am Anfang erlerne, desto sicherer und schneller werde ich sie in Zukunft beherrschen.
Dialog. Langsam tastend-spürend unterwegs zu sein bedeutet, dass Sie den Gefühlen, Stimmen, Wissen in Ihnen eine Chance geben. Diese Chance hat damit zu tun, dass wenn Sie aufhören schnell wie gewohnt zu sein, diese inneren Anteile in Ihnen aufhorchen. Vielleicht haben Sie das schon einmal erlebt? Langsamkeit führt oft dazu, dass ein Teil in Ihnen sich endlich gesehen fühlt und aufwacht. Es wacht in Ihnen auf zu dem was es eigentlich ist: Teil Ihrer Lebensenergie. Sobald es aufwacht entstehen innere Dialoge, in denen Sie hören, was es sich wünscht, was es immer schon versucht hat mitzuteilen. Dies ist Focusing pur, denn es entstehen Erkenntnisse, die überraschend und taufrisch sind. Nichts davon war vorhersehbar, und Sie finden sich in einem tiefen, inneren Dialog.
Neue Wege betreten All dies ist nur möglich, wenn ich langsamer als gewohnt wahrnehme und „bin“. Anstatt ausgetretener Pfade (was mir ermöglicht, schnell zu sein) begehe ich neue Wege und erlebe neue Sichtweisen.
Diese neuen Wege sind am Anfang nur schwer zugänglich, vielleicht fehlt die Sicht und alles ist überwuchert oder in schwerem Gelände. Aber ich lasse mich trotzdem darauf ein, nicht gleich zu wissen, wie etwas geht. Ich lasse mich nicht entmutigen, wenn ich scheinbare Umwege und Sackgassen erlebe. Ich freue mich daran, endlich nicht wissen zu müssen, sondern kennenlernen zu dürfen.