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Nr. 142 – Zwei Aspekte, die dem Wort „Stress“ fehlen, um hilfreich zu sein

Das Wort „Stress“ begegnet mir manchmal, wenn sich jemand dafür interessiert, Focusing zu erlernen. Denn der Grund für verschiedenste Symptome wird, nach ärztlicher Abklärung, oft im Stress gesehen. Leider fehlen dem Wort Stress mindestens zwei wichtige Aspekte, um in weiteren Verlauf des Focusing noch hilfreich zu sein.


Im Focusing geht es darum, differenziert wahrzunehmen und lebendige Begegnung zu stiften. Deshalb kommt das Wort „Stress“ praktisch nicht vor.


„Stress“ ist unspezifisch und ungenau

Wenn ich mich nur mithilfe des Satzes „Das stresst mich total.“ beschreiben kann, dann stehe ich ganz am Anfang. Eine ähnliche Tiefe würde ich erreichen, wenn ich sagen würde „Mir geht es schlecht.“ Beide Beschreibungen sind ein guter Anfang für das Focusing, aber noch unspezifisch und ungenau.


Hilfreicher ist es, spezifisch und präzise zu beschreiben, was tatsächlich in mir vorgeht; und jede Beschreibung, die ich finde, kann ich mithilfe meines Körpers prüfen.


Wenn ich beispielsweise sage „Etwas in mir ist total gestresst, weil es nicht ein noch aus weiß.“, so bin ich einen Schritt weiter; und vielleicht bekomme ich eine Art „Ja, das ist es“ im Körper, „Ja, etwas in mir weiß nicht ein noch aus.“


Nach einiger Zeit taucht vielleicht das Wort „hilflos“ auf – wieder zusammen mit der Reaktion „Ja, genau!“; jetzt fühlt es sich gesehen und gehört. Ich kann verstehen: „Da ist etwas in mir, das sich hilflos fühlt.“


Gleichzeitig kann ich dieses Gefühl wahrscheinlich im Körper lokalisieren. Ich werde mir bewusst, wo und wie die Hilflosigkeit in mir lebt und wirkt – und was ich als nächstes brauche.


Das Gefühl zeigt sich nun spezifisch und genau und ich habe eine ganz andere Möglichkeit, damit weiter zu arbeiten.


„Stress“ kennt keinen inneren Kampf

Die Menschen mit Stress, die ich im Focusing kennengelernt habe, hatten am Anfang wenig Verständnis von inneren Kämpfen. Für sie ist der Eindruck entstanden, dass sie eben einfach „gestresst“ sind – und die Lösung ist es, sich zu entspannen.


Im Focusing ist es allerdings so, dass hinter dem Stress oft ein innerer Kampf steckt. Es gibt Stress und Spannung dadurch, dass die Vielfalt des inneren Lebens stark beschränkt wird.


Da ist zum Beispiel ein Gefühl; sagen wir Hilflosigkeit, Ärger, Trauer oder Heimweh. Aus bestimmten (inneren oder äußeren) Gründen ist es nicht möglich, sich diese Gefühle zuzugestehen. Sie werden als eine Art innere Feinde betrachtet, die es zu unterdrücken gilt.


Solche Unterdrückungskämpfe sind aufreibend und führen über die Zeit zu einer sich immer weiter zuspitzenden Situation.


Im Focusing arbeiten wir daran, beide (oder mehrere) kämpfende Anteile separat anzuerkennen und zu verstehen. Sie können dadurch aufhören zu kämpfen, und ich kann dadurch aufhören, mich auf eine Seite schlagen zu müssen oder entscheiden zu müssen, wer Recht hat oder richtig liegt.


Neugierig werden

Bin ich also mit Stress konfrontiert, geht es in erster Linie, spezifischer und genauer zu werden.


Dadurch, dass ich differenziert beschreibe, was in mir und um mich herum passiert, werden mir auch die inneren (und äußeren) Kämpfe bewusster und ich kann anfangen, allen Anteilen, so wie sie wirklich sind, ungeteilte Aufmerksamkeit zu geben.


Zudem kann ich besser verstehen, welche Rolle z.B. meine Arbeitsumgebung oder meine Beziehungen spielen. Ich fange an, mich vollständiger wahrzunehmen.


In anderen Worten: Immer wenn ich gestresst bin oder den Allgemeinplatz „Ich bin gestresst“ benutze, gilt es aufzuhorchen und neugierig zu werden. Je differenzierter ich das Geschehen wahrnehmen kann, desto effektiver kann ich sehen, was wirklich gebraucht wird.

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