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Tipps & Tricks Nr. 35 – Bin ich verantwortlich für die Gefühle meiner Mutter?

Jemand stellt folgende Frage:


„Über die Weihnachtstage habe ich wieder gemerkt, dass ich leicht mit meiner Mutter aneinander gerate. Sie hat zum Beispiel die Erwartung, dass ich alles klaglos so mitmache wie als Kind, insbesondere das Weihnachtsessen. Wenn ich ihrer Erwartung nicht entspreche, dann wird sie ärgerlich oder beleidigt: „Sei doch nicht so“, „Stell dich doch nicht so an“, „Du bist immer so alternativ“ sind dann noch die harmloseren Dinge, die sie zu mir sagt. Viel passiert auch nonverbal zwischen uns. Nach ein, zwei Tagen fühle ich mich wie in einem Käfig und bin froh, wenn ich endlich wieder abreise. Zusammengefasst kann ich sagen, dass ich mich oft verantwortlich dafür fühle, dass meine Mutter nicht ärgerlich wird. Es ist so, also ob ständig die Drohung „Gleich werde ich ärgerlich“ im Raum schwebt. Ich kann mir im Moment überhaupt nicht vorstellen, dass dies auch einmal anders sein könnte – und ich frage mich, ob ich überhaupt für den ständigen Ärger meiner Mutter verantwortlich sein kann.“


Vielen Dank für diese Frage. Sie beschreiben, wie unvorstellbar es im Moment ist, sich nicht für den Ärger Ihrer Mutter verantwortlich zu fühlen. In solch einem Konflikt zu stecken ist alles andere als einfach, weil so viel auf einmal passiert. Im Focusing können Sie lernen, immer wieder aus dem Sog einer solchen Dynamik aufzutauchen und zu sich selbst zu kommen.

Es ist m.E. wichtig, einen Ort in sich zu finden, der frei ist von den automatischen Reaktionen, die Sie in Situationen dieser Art leicht überrollen können. Freiheit in diesem Sinne bedeutet nicht unbedingt die Abwesenheit von emotionalen Reaktionen. Vielmehr geht es darum, Beziehung und Verständnis für die eigenen Gefühle zu pflegen, bevor Sie etwas anderes tun.

Denken Sie zum Beispiel daran, was Sie in einer solchen sagen – und wie Sie es sagen. Oft eskalieren Konflikte dieser Art durch ein eingeübtes, automatisches Hin und Her von Argumenten, gegenseitigen Verletzungen und Bewertungen.


Der Käfig

Das sich dies wie ein Käfig anfühlt ist leicht zu verstehen. Sie schränken sich Ihrer Mutter „zuliebe“ ein, als ob Sie gar nicht Sie selbst sein zu dürfen. Deshalb ist es hilfreich, sich diesem Käfiggefühl in einem ersten Schritt zuwenden zu können. Denn dies ist ein subtiler, befreiender und radikaler Schritt, der Ihnen niemand streitig machen kann. Sie steigen dadurch aus dem automatischen Geschehen aus: „Ich spüre etwas in mir, dass sich dadurch – wie früher immer – wie in einen Käfig gesperrt fühlt.“

Wenn Sie nach einiger Zeit wirklich in Kontakt damit sein können, dann entsteht Mitgefühl in Ihnen: „Kein Wunder, dass es dir so geht, bei all dem was du schon erlebt hast. Kein Wunder, dass du dich wie in einen Käfig eingesperrt fühlst.“

Diese Art der inneren Zuwendung bedeutet nicht, zu akzeptieren was Ihnen im Außen geschieht oder dies nur im Inneren zu regulieren. Es bedeutet nicht, das Feld passiv Ihrer Mutter zu überlassen. Vielmehr ist es ein erster Schritt, um das gut eingeübte „Spiel“ oder den „Kampf“ bzw. „Rebellion“ zwischen Tochter und Mutter nicht mehr mitzuspielen. Erwarten Sie also nicht von Ihrer Mutter, dass sie sich ändert. Gehen Sie stattdessen anders damit um, was Ihre Mutter erwartet (bzw. was Sie denken, was sie erwartet).


Schmerzen und Unstimmigkeit

Die innere Zuwendung zu den eigenen Anteilen wie oben beschrieben kann anfangs schmerzvoll sein. Sie bemerken dann, was alles nicht stimmig ist, und wie verletzt, eingesperrt und unverstanden Sie sich fühlen. Sie merken vielleicht, wie lange dies schon so ist und wie elendig sich ein Teil in Ihnen fühlt. Sie erleben vielleicht, wie sehr etwas in Ihnen sich danach sehnt, eine andere, stimmigere Beziehung zu Ihrer Mutter zu haben. Sie sehen möglicherweise, wie Sie selbst Ihre Mutter verletzen und bewerten und damit nicht glücklich sind.

Sie kommen in Kontakt mit dem „ganzen Thema“ und können dies als Felt Sense wahrnehmen. Focusing zeigt Ihnen, diese Unstimmigkeiten grundsätzlich als einen Schatz anzusehen: Durch die lebendige Resonanz „Unstimmigkeit“ wird Ihnen signalisiert: Etwas in Ihnen weiß konkret, wie es anders sein könnte. Das Gefühl der Unstimmigkeit enthält konkrete Lösungen, wie es stimmiger sein könnte. Im Inner Relationship Focusing gibt es Wege, die einzelnen „Fäden“ solch eines komplexen Geschehens einzeln anzuschauen und in ihrer Veränderung zu unterstützen.


Arbeit an 2 Bereichen

Tappen Sie an dieser Stelle nicht in die Falle, dass es dabei in erster Linie um das Verhalten Ihrer Mutter gehen sollte. Sie können das „Spiel“ nur von Ihrer Seite aus beeinflussen. Wirksame Änderungen sind dabei nicht „angelernte“ und „bessere“, „optimierte“ Interaktionen, sondern eine lebendigere innere Beziehung. Aus dieser Beziehung erwachsen dann mindestens zwei Seiten, die von Ihnen konkret gelebt werden wollen, um mehr Stimmigkeit zu erhalten:

  1. Klare Grenzen

  2. Offenheit

Zum einen brauchen Sie höchstwahrscheinliche mehr Grenzen und ein klareres Gefühl, wer Sie eigentlich sind in dieser Beziehung. Sie lösen sich dann aktiv aus der Tochterrolle. Sie formulieren klar, was Sie betrifft, was Sie möchten, wo Ihre Grenzen sind. (Sie haben das Gefühl, dass das „nicht geht“? Dass Sie sich dann „unmöglich“ verhalten würden? Prima, würde ich dann sagen, das ist also ein gutes Thema fürs Focusing im nächsten Jahr ;)

Die andere Komponente ist Offenheit, also der Wunsch Ihrer Mutter offen zu begegnen; eine Beziehung zu erleben, in der Sie nicht in Gut und Böse einteilen oder enttäuscht und eingeengt leben müssen. Eine Beziehung, in der Sie die Reaktionen und Muster Ihrer Mutter als solche sehen können – und gleichzeitig als vollständige, kraftvolle, nicht-verstrickte Person da sind.

Mir ist klar, dass all dies nicht oder nur sehr schwer möglich ist, wenn viel Verletzendes in der Vergangenheit vorgefallen ist. Wenn es aber um die Einengung und das Weihnachtsessen geht, dann ist es durchaus möglich, sich mehr Luft und Freiheit zu schaffen.


Freiheit

Grundsätzlich gilt, dass es natürlich wunderschön ist, wenn Sie sich darum sorgen, dass es anderen Menschen gut geht. Es darf aber keine Verantwortlichkeit und kein Zwang entstehen, nach dem Motto „Nur wenn du ____________bist, dann geht es mir gut.“ Um aus diesem „Spiel“ auszusteigen, das Zwang benutzt, fühlt sich eine klare Grenze oft erst einmal ungewohnt und „zu hart“ an. Sie sind es vielleicht nicht gewohnt, sich selbst so zu hören („Vielen Dank, aber das möchte ich nicht.“, „Ich würde das jetzt gerne so machen.“); und es war wohl auch eher kein Teil der Kultur Ihrer Familie, das man sich mit den Gedanken und Gefühlen („Warte mal, das geht mir zu schnell, damit fühle ich mich nicht wohl.“) zeigen konnte, die man eben hatte

Wenn Sie sich die Freiheit wieder genommen haben, sich selbst spüren, formulieren und sein zu dürfen, dann erfinden Sie sich neu. Sie bekommen eine neue Perspektive auf den Versuch, noch eine weitere Runde des beliebten Gesellschaftsspiels „Nur wenn du ….“ zu spielen. Meiner Erfahrung nach sind das übrigens keine „schönen“ oder „flüssigen“ oder „gewaltfreien“ Prozesse, sondern durchaus längere holprige und heftige Wege – aber dies zu gehen lohnt sich m.E. mehr, als die eigenen Wünsche und die eigene Stimmigkeit weiterhin zu ignorieren.

Ich kenne auch Entwicklungen, in denen die Eltern sich freuten, dass endlich jemand die alten Muster durchbrach – es ergaben sich neue Möglichkeiten für alle und überraschende Offenheit auf allen Seiten, wenn auch manchmal zuerst nur im Kleinen. Seien Sie also auch interessiert an eigenen Anteilen in Ihnen, die vielleicht im Brustton der Überzeugung sagen „Ja, so ist sie halt meine Mutter, die wird sich nicht mehr ändern.“

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